In der goldenen Dämmerung des klassischen Griechenlands, als die Kunst sich anschickte, die Grenzen des Sichtbaren zu sprengen, trat ein Mann aus dem Schatten seiner Vorgänger: Lysipp von Sikyon.
Von HB-Redakteur Jorgos Kontos
Geschichte – Geboren um 400 v. Chr. in der peloponnesischen Stadt, formte er nicht nur Metall, sondern auch das Selbstverständnis einer ganzen Epoche. Als Hofbildhauer Alexanders des Großen und Erneuerer der Skulptur, war er der letzte große Meister der klassischen Antike und zugleich Wegbereiter des Hellenismus.
Lysipp war ein Autodidakt, der sich aus der Tradition des Polyklet emanzipierte. Wo einst Symmetrie und statische Harmonie herrschten, brachte er Bewegung, Raum und Zeit ins Spiel. Seine Figuren waren schlanker, die Köpfe kleiner, die Gliedmaßen länger – nicht um zu idealisieren, sondern um das Wesen des Menschen in seiner lebendigen Erscheinung zu erfassen. Plinius der Ältere schrieb ihm die Fähigkeit zu, Menschen nicht darzustellen, wie sie sind, sondern wie sie erscheinen.
Sein Apoxyomenos – ein Athlet, der sich mit einem Schaber vom Staub des Wettkampfs reinigt – ist ein Paradebeispiel für diese neue Sichtweise. Die Figur greift mit ausgestreckten Armen in den Raum, zwingt den Betrachter, sich zu bewegen, sie zu umrunden, sie zu erleben. Es ist ein Dialog zwischen Kunstwerk und Publikum, der bis dahin unbekannt war.
Lysipp schuf über 500 Werke, darunter Porträts von Philosophen, Königen und Göttern. Sein Herakles Farnese, eine monumentale Darstellung des erschöpften Helden, wurde zum Inbegriff der heroischen Müdigkeit. Alexander der Große ließ sich ausschließlich von ihm in Bronze darstellen – ein Zeichen tiefen Vertrauens in die Fähigkeit des Künstlers, das Wesen des Herrschers einzufangen.
Doch Lysipps Einfluss reichte weit über seine Lebenszeit hinaus. Seine Werke sind heute nur noch in römischen Marmorkopien erhalten, doch sein Stil prägte Generationen von Bildhauern. Sein Schüler Chares von Lindos schuf den Koloss von Rhodos, eines der sieben Weltwunder der Antike. (jk)
