Tyche, in der griechischen Mythologie die Göttin des Schicksals und der unberechenbaren Führung, herrscht mit einer Mischung aus Wohlwollen und Willkür über die glücklichen oder unglücklichen Wendungen des Lebens. Ihre römische Entsprechung findet sich in Fortuna, während das germanische Heil die Idee von Tyche in abstrakter Form aufgreift.
Von HB-Redakteurin Soula Dimitriou
Götter & Gelehrte – In der Vorstellung des antiken Griechen und Römer ist Tyche die unberechenbare Macht, die Menschen zu Reichtum erhebt oder ins Unglück stürzt, jedoch oft mit einem Hauch von Positivität, da sie über das persönliche Schicksal hinaus auch das Glück der gesamten Gesellschaft beeinflusst.
Mit ihren charakteristischen Attributen – Füllhorn, Flügeln, Steuerruder und einer Kugel – erscheint sie als personifizierte Verkörperung des Zufalls. Auch der kleine Gott des Reichtums, Plutos, den Tyche gelegentlich im Arm hält, unterstreicht ihren Einfluss auf das Wohlstandsglück.
Die frühesten Erwähnungen der Tyche finden sich in den Werken Hesiods, um 700 v. Chr., und den Homerischen Hymnen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Dort wird sie als Tochter des mächtigen Okeanos und der Tethys beschrieben. Später, im 5. Jahrhundert v. Chr., verwandelt sich diese Vorstellung, und Tyche wird in den Versen des Dichters Pindar als Tochter von Zeus Eleutherios gefeiert, der sie mit Freiheit und Glück in Verbindung bringt.
Im Lauf der Zeit entwickelte sich aus der Verehrung der Tyche ein Kult, der in den Stadtstaaten Griechenlands weit verbreitet war. Vor allem während des Hellenismus (323–31 v. Chr.) verehrten Städte wie Antiochia, Alexandria und Skythopolis Tyche als Stadtgöttin und Schutzpatronin. Diese urbane Darstellung fand sich später auch in der römischen Fortuna wieder, die das Schicksal und die Zufälle der Städte symbolisierte. Auf den Bronzemünzen kleinasiatischer Städte der Kaiserzeit ist Tyche oft als prächtiges Kultbild oder Tycheion abgebildet.
In der antiken Alltagssprache entwickelte sich das Wort „týchē“ schließlich zu einem Synonym für „Schicksal“ oder „Zufall“. Es bezeichnete eine unerwartete Begegnung und wurde sogar zum Ausruf für Fehler oder Missgeschicke – ein Zeugnis für die allmähliche Entpersonalisierung dieser Göttin, deren Bedeutung vom lebendigen Glauben zur sprachlichen Metapher wandelte.
Die Faszination für Tyche setzte sich bis in die Neuzeit fort. Johann Wolfgang von Goethe ließ den „Stein des guten Glücks“ im Park an der Ilm in Weimar errichten – ein Denkmal an die Launen des Schicksals, das an Tyches legendäre Macht erinnert. Auch in der Astronomie fand die Göttin eine späte Ehrung: Der Asteroid (258) Tyche trägt ihren Namen und seit 1999 vermuten Wissenschaftler einen hypothetischen Planeten in den äußeren Regionen unseres Sonnensystems, den sie ebenfalls nach der Schicksalsgöttin benannt haben. (sd)
