Narziss: Die Wurzeln einer selbstverliebten Gesellschaft

In der heutigen Zeit fällt oft der Begriff „Narzissmus“ – ob in der Psychologie, den sozialen Medien oder im Alltag. Doch nur wenige wissen, dass dieser Begriff seine Ursprünge in einer antiken griechischen Sage hat: der Geschichte von Narziss. Diese alte Erzählung wirft ein faszinierendes Licht auf unsere modernen Gesellschaftsprobleme und die menschliche Natur.
Von HB-Redakteurin Maria Vlachou

Götter & Gelehrte – Narziss war ein wunderschöner Jüngling, der so sehr von seiner eigenen Schönheit eingenommen war, dass er jeden zurückwies, der ihm seine Liebe anbot. Unter den Zurückgewiesenen war auch die Nymphe Echo, die vor Kummer dahinschwand, bis nur noch ihre Stimme übrig blieb. Narziss Stolz und Selbstverliebtheit führten schließlich zu seiner Strafe: Die Göttin Nemesis ließ ihn sein eigenes Spiegelbild in einem klaren Teich erblicken. Verzaubert von seinem eigenen Anblick, konnte er sich nicht davon lösen und starb schließlich, unfähig, seine eigene Reflexion zu berühren.

Die Geschichte von Narziss wurde im 19. Jahrhundert von Psychologen wie Sigmund Freud aufgegriffen und fand Eingang in die psychologische Fachsprache. Narzissmus beschreibt heute eine Persönlichkeitsstörung, die durch ein übersteigertes Selbstwertgefühl, Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie gekennzeichnet ist. Narzisstische Personen haben oft Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen und zeigen ein ausgeprägtes Bedürfnis, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

In unserer digitalisierten Welt, in der soziale Medien eine große Rolle spielen, ist Narzissmus ein weitverbreitetes Phänomen. Plattformen wie Instagram, Facebook und TikTok bieten jedem die Möglichkeit, sich selbst darzustellen und Anerkennung in Form von Likes und Kommentaren zu suchen. Diese ständige Suche nach Bestätigung kann narzisstische Züge verstärken und zu einem verzerrten Selbstbild führen.

Studien zeigen, dass die jüngeren Generationen tendenziell höhere narzisstische Merkmale aufweisen als frühere Generationen. Dies wird teilweise auf die omnipräsente digitale Selbstdarstellung und den damit verbundenen sozialen Druck zurückgeführt. Narzisstisches Verhalten kann jedoch auch negative Folgen haben, wie zum Beispiel die Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit, oberflächliche Beziehungen und ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angststörungen.

Die Geschichte von Narziss dient als zeitlose Warnung vor den Gefahren übermäßiger Selbstliebe und Eitelkeit. Sie erinnert uns daran, dass wahre Erfüllung und Zufriedenheit nicht in der Selbstverherrlichung, sondern in der Empathie und den tiefen Verbindungen zu anderen Menschen liegen. Narzissmus ist eine Herausforderung, die nicht nur Einzelne, sondern die gesamte Gesellschaft betrifft. Ein bewusster Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und die Förderung von zwischenmenschlichem Verständnis und Mitgefühl sind entscheidende Schritte, um die Balance zwischen gesundem Selbstwertgefühl und narzisstischen Tendenzen zu finden. (mv)

Foto: Olle August/Pixabay