Grenzregion im Ausnahmezustand: Warum nun türkische Familien massenweise nach Alexandroupolis zum Einkaufen reisen

Alexandroupolis – Wer an einem Samstagmorgen die Strandpromenade entlangspaziert, sieht zwischen Fischkuttern und Fähren vor allem eins: Busse mit Istanbuler, Bursaner und Çanakkaler Kennzeichen. Die Fahrer lehnen an ihren Türen, trinken griechischen Kaffee und warten darauf, dass die Passagiere aus den Supermärkten zurückkehren – vollgepackt mit prall gefüllten Einkaufstaschen.
Von HB-Redakteur Vangelis Makris

Aktuell – Die griechische Hafenstadt, nur wenige Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, hat sich in den vergangenen Monaten zu einem der beliebtesten Ziele türkischer Einkaufstouristen entwickelt. Während Griechen früher nach Edirne strömten, um günstige Kleidung oder Kosmetik zu erwerben, hat sich der Wind gedreht: Jetzt sind es die Türken, die den Weg nach Westen wählen – und das in rasant wachsender Zahl.

Für Nevin Karabulut ist die monatliche Tour nach Alexandroupolis mittlerweile Ritual. „Es ist fast wie ein Familienausflug“, sagt sie und verstaut mehrere Flaschen Wein, Käsepakete und zwei Liter Olivenöl in der Kühlbox ihres Wagens. „Was ich hier für 10 Euro bekomme, kostet zu Hause fast das Doppelte. Und Fleischpreise will ich gar nicht erst vergleichen.“

Tatsächlich gehört Olivenöl zu den Produkten, die den größten Preisunterschied aufweisen: Rund 10 Euro pro Liter in Griechenland – etwa 20 Euro in der Türkei. Auch Rindfleisch, Gouda, Schokolade oder Wurstwaren sind westlich der Grenze deutlich günstiger. Ein Kilo Hackfleisch kostet in Alexandroupolis 9,36 Euro, während türkische Verbraucher im Schnitt 12,10 Euro zahlen müssen.

Diese Preisunterschiede bleiben nicht ohne Folgen. Laut türkischem Statistikamt reisten in den ersten neun Monaten des Jahres 6 Prozent aller Auslandsreisenden ausschließlich zum Einkaufen nach Griechenland – ein Höchststand, wie er seit 2012 nicht mehr erreicht wurde. Allein im dritten Quartal diesen Jahres machten sich 245.247 Türken mit dem einzigen Ziel auf den Weg: Geld im Ausland zu sparen. Das entspricht einem Zuwachs von 112 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch die durchschnittlichen Ausgaben pro Person liegen mit rund 630 Euro ungewöhnlich hoch.

Die Hintergründe sind klar: Trotz einer zuletzt stabileren Lira und einer offiziellen Rückkehr zu einer strengeren Finanzpolitik bleibt die Inflation in der Türkei deutlich spürbar. Zwar ist die Lebensmittelteuerung nach Regierungsangaben von 54 auf 35 Prozent gesunken, doch ein typischer Warenkorb ist laut TurkStat im Jahresvergleich immer noch 144 Prozent teurer geworden. „Unsere Kunden kommen mit klarer Mission“, erzählt Barış Ilgaz, Mitarbeiter eines Reisebüros, das jeden Freitagabend Busse Richtung Griechenland losschickt. „Sie kaufen alles: Fleisch, Käse, Pflegemittel, Olivenöl, Nudeln. In drei Stunden sind die Einkaufswagen voll.“ Die Fahrt kostet rund 50 Euro, Grenzgebühr und Ausreisesteuer inklusive.

Auf TikTok und YouTube verbreiten sich Preisvergleichsvideos wie Lauffeuer. Nutzer filmen Regaletiketten in Alexandroupolis und gegenübergestellt die Preise in Istanbul oder Ankara. Besonders viral gehen Clips, die zeigen, dass sogar alltägliche Produkte wie Joghurt, Nudeln oder Gemüse auf griechischer Seite günstiger sind. „Diese Videos haben eine enorme Wirkung“, sagt Ilgaz. „Das hat etwas von kollektiver Recherchearbeit – und jeder sieht: Es lohnt sich.“ Die Folgen zeigen sich am Grenzübergang Kipoi–İpsala. Am vergangenen Wochenende standen Autos bis zu zwei Stunden in der Schlange. Nicht nur Supermärkte in Alexandroupolis verzeichnen Rekordumsätze. Auch Tavernen, Cafés und lokale Bäckereien erleben steigende Nachfrage. Viele Besucher gönnen sich nach dem Einkauf frischen Fisch, Meeresfrüchte oder griechische Vorspeisen – ebenfalls preiswerter als in zahlreichen türkischen Städten. 

Solange die türkische Währung stabil bleibt und die Preisunterschiede bestehen, dürfte der Einkaufstourismus anhalten. Ökonomen sehen darin nicht nur eine Reaktion auf Inflation, sondern auch einen kulturellen Wandel. „Die früheren Muster haben sich umgekehrt“, sagt Ilgaz. „Wo früher Griechen in die Türkei zum Shoppen fuhren, machen es jetzt die Türken in Griechenland.“ Für viele Verbraucher wie Nevin Karabulut steht fest: „Solange ich hier ein Drittel spare, komme ich weiter. Und danach gehen wir schön essen – das gehört dazu.“ (mav)

Foto: Hellas-Bote