In den sonnenverwöhnten Landschaften Kretas, wo Olivenhaine und Weinberge das Bild prägen, entsteht ein Destillat, das die Seele der Insel einfängt: Tsikoudia.
Von HB-Redakteur Panos Ventouris
Griechisch kochen – Dieser klare Tresterbrand, oft auch Rakí genannt, ist weit mehr als nur ein alkoholisches Getränk; er verkörpert die Essenz kretischer Gastfreundschaft und Kultur. Die Herstellung von Tsikoudia beginnt nach der Weinlese im Herbst. Aus den Pressrückständen der Weintrauben, dem sogenannten Trester, wird in traditionellen Kupferkesseln destilliert. Um ein Anbrennen der Maische zu verhindern und dem Destillat ein besonderes Aroma zu verleihen, legen die Brennmeister den Kesselboden oft mit Olivenholzzweigen aus. Das Ergebnis ist ein klarer Brand mit einem Alkoholgehalt zwischen 30 und 40 Volumenprozent, dessen Geschmack an italienischen Grappa erinnert.

Im Gegensatz zu anderen mediterranen Tresterbränden wie dem türkischen Rakı verzichtet Tsikoudia auf die Zugabe von Anis. Diese Reinheit im Geschmack macht ihn zu einem unverfälschten Genuss, der sowohl pur als auch verdünnt mit Wasser oder auf Eis getrunken wird. Auf Kreta ist es üblich, Gästen bei jeder Gelegenheit ein Gläschen Tsikoudia anzubieten – sei es zur Begrüßung, zum Abschied oder nach einem herzhaften Mahl. Diese Geste unterstreicht die tiefe Verwurzelung des Getränks in der kretischen Lebensart.
Die Produktion von Tsikoudia erfolgt oft in kleinen Familienbetrieben, die ihr Handwerk über Generationen hinweg perfektioniert haben. Aufgrund staatlicher Lizenzbeschränkungen dürfen jedoch nur wenige dieser Betriebe legal destillieren. Dennoch blüht die Tradition weiter, und in vielen Dörfern wird der Brand noch immer inoffiziell hergestellt und in einfachen Flaschen ohne Etikett verkauft. Für die Einheimischen ist es eine Ehre, einen guten Tsikoudia anzubieten oder serviert zu bekommen, wobei Qualität und Geschmack je nach Hersteller variieren können.
Neben dem klassischen Tsikoudia gibt es auf Kreta auch spezielle Varianten, die das Spektrum des Geschmacks erweitern. Ein Beispiel ist der Mournorakí, ein Brand aus Maulbeeren, der vor allem im Westen der Insel verbreitet ist. Eine weitere Delikatesse ist der Rakomelo, eine Mischung aus Tsikoudia, Honig und Gewürzen wie Zimt und Kardamom, die besonders in den kühleren Monaten warm serviert wird und für wohlige Wärme sorgt.
Tsikoudia ist nicht nur ein Getränk, sondern ein Symbol für die kretische Identität und Lebensfreude. In den Tavernen der Insel, begleitet von traditionellen Mezedes wie gefüllten Weinblättern, gegrilltem Oktopus oder frischem Käse, entfaltet er seine volle Wirkung und bringt Menschen zusammen. Ob bei festlichen Anlässen, familiären Zusammenkünften oder einfach nur beim geselligen Beisammensein – ein Glas Tsikoudia hebt die Stimmung und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Wer die wahre Essenz Kretas erleben möchte, kommt an einem Schluck dieses ehrlichen Destillats nicht vorbei. (pv)
