Mitten im glitzernden Blau des Ionischen Meeres, zwischen den bekannteren Inseln Ithaka und Lefkada, ruht ein stiller Schatz: Atokos. Eine Insel, so unscheinbar auf der Landkarte, und doch von solch geheimnisvoller Anziehungskraft, dass sie nicht nur Segler ins Träumen versetzt, sondern auch Historiker, Ökologen und Philanthropen gleichermaßen fasziniert.
Von HB-Redakteurin Sabrina Köhler
Reisen – Atokos ist unbewohnt – zumindest von Menschen. Kein Lichtschein bei Nacht, kein Ruf aus Tavernen, kein Lachen von spielenden Kindern durchbricht die Stille. Und doch pulsiert das Eiland, bedeckt mit Olivenbäumen, Macchia und seltenen Pflanzen, voller Leben. Die steilen Klippen an der Westseite geben den Blick frei auf ein dramatisches Schauspiel von Wind und Wellen, während sich an der Ostküste ruhige Buchten wie One House Bay oder Cliff Bay mit türkisfarbenem Wasser und feinem Kiesstrand sanft an die kargen Hänge schmiegen.
Die Insel gehört der einflussreichen Familie Evangelos Embiricos, einem Namen, der in der griechischen Reedereiwelt Gewicht hat. Trotz ihrer privaten Eigentümerschaft ist Atokos jedoch nicht vollständig abgeschottet. Immer wieder legen Yachten und Segelboote in ihren geschützten Buchten an, deren Crews von der Ursprünglichkeit des Ortes verzaubert werden. Wanderer, die den Aufstieg durch das dichte Buschwerk wagen, werden mit einem einmaligen Panorama belohnt – der Blick schweift über das tiefblaue Meer bis zu den Konturen Kefalonias und Ithakas am Horizont.
Die kleine Kirche der Verklärung Christi („Metamorfosi tou Sotiros“) steht etwas verloren, beinahe schüchtern auf einem sanften Hügel. Ihr weißer Glockenturm blitzt im Sonnenlicht auf und erinnert daran, dass diese Insel, so unberührt sie auch scheint, Teil einer lebendigen, kulturell reichen und spirituell aufgeladenen Welt ist. Einmal im Jahr, am 6. August, erwacht Atokos kurzzeitig zum Leben, wenn sich Pilger und Mitglieder der Embiricos-Familie versammeln, um das Fest der Verklärung Christi zu feiern – eine intime Zusammenkunft, die der Insel etwas von ihrem mystischen Zauber zurückgibt.
In den vergangenen Jahren tauchte Atokos immer wieder in den Schlagzeilen auf. Nicht wegen großer Ereignisse, sondern wegen seiner Zukunft. Immer wieder wurde darüber spekuliert, ob die Familie Embiricos das Eiland verkaufen möchte. Die Idee, dass eine solch unberührte Oase – 4,4 Quadratkilometer Wildnis, ein kleines Paradies – in fremde Hände gelangen könnte, ruft Sorgen bei Naturschützern und Skepsis bei Einheimischen hervor. Dabei geht es nicht nur um Besitz, sondern um den Erhalt einer Landschaft, die über Jahrhunderte vom Menschen kaum verändert wurde.
Der Reiz von Atokos liegt in seiner Widersprüchlichkeit. Einerseits ist die Insel Teil des griechischen Staates, administrativ der Gemeinde Ithaka zugehörig, anderseits ein privates Territorium ohne Bebauung, das dennoch zugänglich ist. Sie ist greifbar und doch entrückt. Für einige ist sie ein Zufluchtsort, für andere ein Symbol des Stillstands, vielleicht sogar ein Spiegelbild der komplexen Beziehung Griechenlands zu seinen natürlichen Ressourcen und seinem kulturellen Erbe.
Atokos steht da wie ein vergessenes Kapitel in einem alten Buch, das plötzlich wieder aufgeschlagen wird. In einer Welt, die immer lauter, dichter und hektischer wird, ist diese Insel ein Ort der Kontemplation. Sie fragt nicht nach Aufmerksamkeit – und doch bekommt sie sie. Von jenen, die im Wind der Ägäis nicht nur ein Rauschen hören, sondern Geschichten. Geschichten von Göttern und Seeleuten, von Einsamkeit und Ewigkeit. (ea)
