Zwischen Ruinen und Wellen – Mein Tag in Nora, Sardinien

Die Sonne stand schon hoch, als ich mein Auto auf dem staubigen Parkplatz am Capo di Pula abstellte. Der Wind roch nach Salz und warmer Erde, Möwen kreisten über der Bucht – und irgendwo da vorn, am Ende eines kurzen Weges durch niedriges Buschwerk, lag sie: Nora. Eine Stadt, älter als Rom, fast vergessen – und doch voller Leben, wenn man nur genau hinsieht.
Von HB-Redakteur Dietmar Thelen

Weltweit/Sardinien – Es war mein erster Besuch an diesem Ort, von dem ich zuvor kaum mehr wusste als das, was in Reiseführern in zwei Absätzen abgehandelt wird. Doch kaum hatte ich das Gelände betreten, fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt. Zwischen den Mauerresten und Mosaikböden wurde Geschichte greifbar – nicht als staubige Theorie, sondern als lebendige Bühne, auf der über Jahrhunderte Menschen lebten, liebten, stritten und träumten.

Foto: Hellas-Bote

Nora war einst eine blühende Hafenstadt. Phönizier, Karthager, Römer – sie alle haben hier ihre Spuren hinterlassen. Die steinernen Straßen, die Reste der Thermen, der überdimensionale Grundriss des Forums – alles erzählt Geschichten, wenn man sie hören will. Ich stand eine Weile im Halbrund des römischen Theaters, dessen Sitzreihen noch heute erstaunlich gut erhalten sind. Der Blick fällt von dort direkt auf das Meer. Ein Spielplatz der Antike, mit Wellenrauschen als Hintergrundmusik. Ich stellte mir vor, wie einst römische Bürger hier saßen, in Togen, fächernd in der Hitze, während Komödien gespielt wurden oder Reden hallten.

Was Nora so besonders macht, ist seine Lage. Anders als viele andere antike Städte liegt es direkt am Meer – und teils sogar darunter. Einige der alten Hafenanlagen, sagen Archäologen, wurden längst vom Wasser verschluckt. Man kann bei ruhiger See sogar Mauerreste unter der Wasseroberfläche erkennen. Es ist, als hätte das Meer selbst beschlossen, einen Teil dieser Geschichte für sich zu behalten.

Ich schlenderte weiter zu den Mosaikböden des sogenannten „Haus der Nymphen“. Fein gearbeitete Muster, kunstvoll gelegt – und das nach über 1.500 Jahren! Ein Wunder, dass sie überhaupt noch existieren. Man darf sie nicht betreten, aber man steht nahe genug, um jedes Detail zu erkennen: kleine, farbige Steine in perfekter Harmonie.

Foto: Hellas-Bote

Gegen Mittag wurde es heißer, und ich zog mich an die Schattenseite des alten Wachturms zurück, des Torre del Coltellazzo. Von hier oben schweift der Blick weit über die Küste – und über das, was einmal die Stadt war. Der Gedanke, dass genau hier einst Schiffe aus Nordafrika und dem östlichen Mittelmeer anlegten, lässt die Geschichte ganz nah erscheinen.

Nora ist kein Museum, keine Inszenierung. Es ist ein Ort, der sich selbst überlassen wurde – und vielleicht ist es genau das, was ihn so besonders macht. Man braucht keine Rekonstruktionen, keine Animationen. Die Ruinen sprechen für sich. Und mit etwas Fantasie beginnt man, sie zu hören.

Wer Sardinien bereist und nur nach Stränden sucht, verpasst das wahre Gesicht dieser Insel. Aber wer sich Zeit nimmt – einen halben Tag vielleicht –, wer die Augen offen hält und den Wind zwischen den Säulen spürt, der wird begreifen, warum Nora mehr ist als nur ein archäologischer Ort. Es ist ein Erlebnis, das bleibt. (dt)

Foto: Hellas-Bote