Masken, Mythen und Magie: Der sardische Karneval – Archaisches Spektakel im Herzen des Mittelmeers

Auf Sardinien, der zweitgrößten Insel Italiens, lebt ein Karneval, der so alt ist wie die Geschichten der Hirten und so tief verwurzelt wie die Steine der Nuraghen.
Von HB-Redakteur Dietmar Thelen

Weltweit/Sardinien – Wer Sardinien nur mit Sommer, Strand und Sonne verbindet, verpasst eines der eindrucksvollsten kulturellen Rituale Europas: den sardischen Karneval, ein faszinierendes Schauspiel archaischer Masken, mystischer Tänze und uralter Rituale, das nicht nur gefeiert, sondern gelebt wird. Weit entfernt vom Glanz venezianischer Masken oder dem bunten Treiben in Köln entfaltet sich hier ein düsteres, eindrucksvolles Brauchtum, das tief in die vorchristliche Vergangenheit reicht.

Foto: Hellas-Bote

Die Ursprünge des sardischen Karnevals reichen Jahrtausende zurück. Seine Wurzeln liegen in heidnischen Fruchtbarkeits- und Naturkulten, in denen der Kreislauf von Leben und Tod, Licht und Dunkel, Mensch und Tier rituell verhandelt wurde. Bis heute hat sich dieser Karneval seinen wilden, ursprünglichen Charakter bewahrt – und das nicht nur in der äußeren Form. Die Masken und Gestalten sind keine bloßen Verkleidungen, sondern tragen symbolische Bedeutung, spiegeln den Kampf zwischen Gut und Böse, Ordnung und Chaos wider. Besonders eindrucksvoll ist dies in Ortschaften wie Mamoiada, Ottana oder Orotelli zu erleben.

In Mamoiada, einem kleinen Ort in der Barbagia, schlagen die Herzen der Besucher schneller, wenn die Mamuthones und Issohadores durch die Gassen ziehen. Die Mamuthones, in schwarze Schafsfelle gehüllt, tragen schwere Glocken auf dem Rücken und hölzerne Masken mit finsteren Zügen. Sie bewegen sich in einem ritualisierten, rhythmischen Stampfen – dumpf, unaufhaltsam, fast tranceartig. Ihre Gegenstücke, die Issohadores, erscheinen in weißen Hosen, roten Miedern und mit geschwungenen Seilen. Spielerisch und zugleich fordernd werfen sie ihre Lassos in die Menge, als wollten sie das Schicksal selbst einfangen. Die symbolische Deutung dieser Figuren ist vielfältig: Die Mamuthones könnten unterdrückte Seelen, Tiere oder die Naturgewalten darstellen, während die Issohadores als Hüter der Ordnung gelten, die versuchen, das Chaos zu zähmen.

In Ottana begegnet man den Boes und Merdules – ebenso uralten Figuren. Die Boes tragen Ochsenmasken und symbolisieren die wilde, tierische Natur. Ihre Gegenspieler, die Merdules, sind in zottelige Mäntel gehüllt und versuchen, mit Holzstöcken die Tiere zu kontrollieren. Auch hier ist der ewige Kampf zwischen Mensch und Natur, zwischen Instinkt und Vernunft das zentrale Thema. Die Masken sind kunstvoll aus Feigenholz geschnitzt und werden über Generationen hinweg vererbt. Jede Figur, jede Bewegung erzählt Geschichten, die kein Buch fassen kann.

Der sardische Karneval ist nicht überall gleich. In den Städten wie Bosa oder Tempio Pausania finden farbenfrohere, fast folkloristisch anmutende Paraden statt, doch auch sie tragen noch immer Reste der archaischen Symbolik in sich. Besonders spektakulär ist das nächtliche Reiterfest Sa Sartiglia in Oristano, das auf mittelalterliche Turniere zurückgeht. Maskierte Reiter galoppieren über den Platz und versuchen, mit dem Schwert eine kleine Sternscheibe zu durchbohren – ein Ritual, das Mut, Geschick und göttlichen Beistand gleichermaßen erfordert.

Die Faszination des sardischen Karnevals liegt gerade in seiner Andersartigkeit. Er ist kein ausgelassenes Fest der Ausgelassenheit, sondern eine ernste, ja fast sakrale Inszenierung uralter Themen. Die wilde Natur der Insel, ihre karge Schönheit, die stolze Eigenständigkeit ihrer Bewohner spiegeln sich in jedem Schritt der Maskenträger wider. Der Besucher taucht ein in eine andere Welt, eine andere Zeit, eine andere Wirklichkeit – und versteht vielleicht ein wenig besser, was Sardinien im Innersten ausmacht: eine Insel der Geheimnisse, der Mythen und der tiefen, fast greifbaren Verbundenheit mit der Vergangenheit. (dt)

Foto: Hellas-Bote