In den Schatten der antiken Literatur erhebt sich eine Gestalt von düsterer Faszination: Erichtho, die thessalische Hexe, deren Name mit Nekromantie und unheilvollen Prophezeiungen verbunden ist.
Von HB-Redakteurin Maria Vlachou
Kunst & Kultur – Erstmals tritt sie in Lucans Epos Pharsalia auf, wo sie dem Sohn des Pompeius, Sextus, durch ein grausames Ritual die Zukunft der Schlacht von Pharsalos offenbart. In einer Szene von makabrer Intensität erweckt sie einen gefallenen Krieger zum Leben, um ihm eine düstere Vision des bevorstehenden Bürgerkriegs zu entlocken.
Erichthos Darstellung in der Pharsalia kontrastiert stark mit der frommen Cumaeischen Sibylle aus Vergils Aeneis. Während die Sibylle als gottesfürchtige Führerin in die Unterwelt agiert, verkörpert Erichtho das Gegenteil: eine gottlose Nekromantin, die sich an den Grenzen des Sakralen bewegt. Ihre Rituale sind geprägt von der Entweihung der Toten und der Missachtung göttlicher Ordnung, was sie zu einer Figur macht, die sowohl Faszination als auch Abscheu hervorruft.
Auch in Dantes Göttlicher Komödie findet Erichtho Erwähnung. Im neunten Gesang des Inferno berichtet Vergil, dass er einst auf Erichthos Geheiß in die tiefsten Kreise der Hölle hinabstieg, um eine Seele zurückzuholen. Diese Episode unterstreicht ihre Macht über Leben und Tod und ihre Fähigkeit, selbst die Regeln der jenseitigen Welt zu beugen.
In Goethes Faust II erscheint Erichtho auf den Pharsalischen Feldern als düstere Seherin, die verschiedene Epochen miteinander verwebt. Sie verbindet die vorolympische Zeit Griechenlands mit dem römischen Bürgerkrieg und dem griechischen Befreiungskampf, wodurch sie als Symbol für die zyklische Natur von Geschichte und Konflikt dient.
Erichthos Figur bleibt ein faszinierendes Beispiel für die Darstellung weiblicher Macht in der Literatur. Als Hexe, Seherin und Grenzgängerin zwischen Leben und Tod verkörpert sie die Ambivalenz von Wissen und Macht, von Furcht und Faszination. Ihre Präsenz in verschiedenen literarischen Werken zeugt von der anhaltenden Relevanz solcher archetypischen Figuren, die die dunklen Seiten menschlicher Erfahrung beleuchten. (mv)
