Tief unten im Blau der Ägäis und des Ionischen Meeres, zwischen sonnenverwöhnten Inseln und felsigen Küsten, lauert eine stille Gefahr: Geisternetze. Es sind verlorene, vergessene oder absichtlich entsorgte Fischernetze, die unbemerkt weiterfischen – Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Von HB-Redakteur Dietmar Thelen
Aktuell – In Griechenland, einem Land mit mehr als 13.000 Kilometern Küstenlinie und einer tief verwurzelten Fischereitradition, sind die Folgen dieser Netze besonders deutlich zu spüren. Die Geisternetze töten nicht nur Meerestiere in großer Zahl, sie verschmutzen auch dauerhaft die Meeresumwelt und gefährden damit eines der wertvollsten Naturgüter des Landes – das Meer selbst.

Diese Netze bestehen aus extrem widerstandsfähigen Materialien wie Nylon, Polypropylen oder Polyethylen. Sie verrotten nicht wie natürliche Fasern, sondern bleiben über Jahrzehnte hinweg im Wasser erhalten. Verheddert in Felsen, versunken an Wracks oder an Strömungen treibend, stellen sie eine unsichtbare, aber tödliche Gefahr für das gesamte marine Leben dar. Schildkröten, Delfine, Kraken, Fische, Seepferdchen und Seevögel verfangen sich in den Maschen, werden verletzt oder sterben an Erschöpfung, Hunger oder durch Verletzungen. Einmal gefangen, haben die Tiere kaum eine Chance zu entkommen.
In Griechenland nimmt die Dimension dieser Problematik dramatische Ausmaße an. Rund um die beliebte Insel Santorini etwa wurden in den letzten Jahren durch Tauchprojekte mehr als 28 Tonnen Geisternetze und anderer Plastikmüll geborgen – eine gewaltige Menge für nur eine kleine Region. Die Taucher fanden Netze, die sich wie Teppiche über den Meeresboden zogen. In ihnen verendeten zahlreiche Meerestiere. Die lokalen Behörden und Umweltschützer schlagen Alarm: Das marine Ökosystem vor den Kykladeninseln ist durch die Netzfalle massiv unter Druck geraten.
Auch in der Region um Poros im Saronischen Golf wurden erschreckende Funde gemacht. Ein einziges, großflächig ausgebreitetes Netz wog fast 400 Kilogramm. Es hatte sich an den Felsen des Meeresbodens festgehakt und eine Vielzahl von Meereslebewesen eingeschlossen – viele von ihnen tot oder verletzt. Als Taucher das Netz schließlich bergen konnten, dokumentierten sie das Ausmaß der Zerstörung: Muschelbänke, Anemonen, Fische – alles gefangen und teilweise bereits verrottet. Es war, wie ein Taucher es formulierte, „eine Unterwasserwüste voller toter Lebewesen“.
Ein besonders drastisches Beispiel sind die sogenannten „ghost farms“: verlassene Fischzuchtanlagen, deren Netze, Plastikkäfige und Stahlseile nach dem wirtschaftlichen Aus einfach im Meer zurückgelassen wurden. Vor allem entlang der Westküste Griechenlands, etwa bei Ithaka, wurden über 150 solcher verlassenen Anlagen identifiziert. In einem einzigen, groß angelegten Einsatz an einem dieser Orte bargen internationale Umweltschutzorganisationen innerhalb von acht Tagen 76 Tonnen Müll – darunter unzählige Netze, Rohre, Metallrahmen und Plastiktonnen. Die gewaltige Menge zeigt, wie sehr menschliche Ignoranz das Meer über Jahre hinweg belastet hat.
Doch trotz dieser düsteren Realität gibt es Initiativen, die Hoffnung machen. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen wie Aegean Rebreath, Healthy Seas oder Ghost Diving leisten seit Jahren unermüdliche Arbeit, um die Geisternetze aus dem Meer zu holen. Mit speziell ausgebildeten Tauchern und Unterstützung durch lokale Gemeinden und Fischerboote bergen sie regelmäßig große Mengen an Netzen aus allen Teilen des Landes. Seit Beginn ihrer Aktivitäten wurden mehr als 60 Tonnen Netze aus dem griechischen Meer entfernt.
Was diese Organisationen besonders auszeichnet, ist ihr ganzheitlicher Ansatz. Die geborgenen Netze werden nicht einfach entsorgt, sondern einem sinnvollen Kreislauf zugeführt. Über Kooperationen mit Recyclingfirmen wie Aquafil werden die alten Kunststofffasern zu hochwertigem Garn verarbeitet – sogenanntem ECONYL®. Dieses Garn kommt wiederum in der Modebranche oder in der Teppichproduktion zum Einsatz. So entsteht aus dem Müll der Meere ein hochwertiger, wiederverwertbarer Rohstoff – ein Kreislauf, der zeigt, wie Umweltschutz und Innovation Hand in Hand gehen können.
Darüber hinaus setzen die Initiativen auf Bildung und Aufklärung. In Küstendörfern und auf den Inseln finden regelmäßige Infoveranstaltungen statt. Schulkinder lernen spielerisch, was Meeresverschmutzung bedeutet, wie man Netze erkennen kann und warum ihre Entfernung so wichtig ist. Auch lokale Fischer werden eingebunden: In Schulungen und Workshops erfahren sie, wie sie ihre Ausrüstung nachhaltig nutzen, Schäden melden und alte Netze fachgerecht entsorgen können. In immer mehr Häfen stehen mittlerweile Sammelstationen bereit, an denen ausrangierte Netze kostenlos abgegeben werden können.
Trotz dieser ermutigenden Entwicklungen bleibt der Kampf gegen Geisternetze eine Mammutaufgabe. Es fehlt nach wie vor an flächendeckender Überwachung und konsequenter gesetzlicher Regelung. Zwar existieren Vorschriften, die die Rückholung von verlorenen Fischereigeräten vorschreiben, doch deren Umsetzung ist oft mangelhaft. Es braucht klare rechtliche Verpflichtungen für Fischer und Zuchtanlagenbetreiber, ihre Ausrüstung ordnungsgemäß zurückzubauen oder zu entsorgen – inklusive empfindlicher Strafen bei Zuwiderhandlung.
Auch technologisch besteht Nachholbedarf. Moderne GPS-Tracking-Systeme für Fischernetze könnten helfen, verlorene Ausrüstung schnell zu lokalisieren und zu bergen. In anderen Ländern wird bereits mit biologisch abbaubaren Netzen aus Naturfasern experimentiert – auch Griechenland sollte solche Innovationen aktiv fördern und Pilotprojekte anstoßen. Langfristig könnten derartige Maßnahmen helfen, die Entstehung neuer Geisternetze von vornherein zu verhindern.
Nicht zuletzt ist eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Staat, NGOs, Forschung, Fischerei und Tourismus notwendig. Der Schutz des Meeres ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – gerade in einem Land, dessen Wirtschaft und Identität so eng mit dem Meer verbunden sind wie in Griechenland. Jeder verlorene Quadratmeter Meeresgrund, jeder tote Delfin, jedes Mikroplastik-Partikel ist ein Mahnmal dafür, wie dringend wir handeln müssen.
Geisternetze sind ein globales Problem – aber Griechenland zeigt, wie lokale Initiativen bereits heute konkrete Lösungen bieten können. Der Weg ist lang, aber er lohnt sich: Für saubere Meere, für gesunde Ökosysteme – und für kommende Generationen, die auch noch in kristallklarem Wasser schwimmen und lebendige Meeresvielfalt erleben sollen. (dt)
