Die kunstvolle Pferdeskulptur des antiken griechischen Bildhauers Lysippos erzählt eine eindrucksvolle und dramatische Geschichte über Plünderungen, Machtkämpfe und die unaufhaltsame Faszination für antike Kunstwerke.
Von HB-Redakteurin Sabrina Köhler
Kunst & Kultur – Ursprünglich auf der Insel Chios beheimatet, haben die majestätischen Pferde eine lange Reise hinter sich, die sie durch mehrere Metropolen Europas führte. Diese Reise begann in der Antike und wurde von den Höhen und Tiefen der europäischen Geschichte geprägt. Heute stehen sie als stille Zeugen in der Basilika San Marco in Venedig – und dennoch ist ihre Geschichte alles andere als ruhig.
Die Pferdeskulpturen, die wahrscheinlich von Lysippos, einem der berühmtesten Bildhauer des antiken Griechenlands, geschaffen wurden, sollen ursprünglich von der Insel Chios stammen. Chios, die fünftgrößte Insel Griechenlands, war für ihre reiche kulturelle Geschichte und ihre enge Verbindung zur antiken griechischen Kunst bekannt. Hinweise auf die Pferde finden sich in den Parastaseis syntomoi chronikai, einem Text aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, der häufig vier Pferde und eine Quadriga (einen antiken Streitwagen) erwähnt.
Diese Kunstwerke blieben lange Zeit auf Chios, bis sie nach Konstantinopel, die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, gebracht wurden. Dort sollten sie eine zentrale Rolle in der kaiserlichen Prachtentfaltung spielen und über Jahrhunderte hinweg ihre Strahlkraft entfalten.
Im Jahr 1204, während des Vierten Kreuzzugs, änderte sich das Schicksal der Pferde dramatisch. Venezianische Truppen, die die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches plünderten, nahmen die antiken Meisterwerke als Kriegsbeute mit sich. In einem Akt brutaler Zweckmäßigkeit wurden die Köpfe und Hälse der Pferde entfernt, um den Transport von Konstantinopel nach Venedig zu ermöglichen. Um die Verstümmelungen zu verbergen, wurden etwa zu dieser Zeit die Halsbänder angebracht, die auch heute noch zu sehen sind. Dieser Eingriff war notwendig, um den Transport der imposanten Skulpturen über weite Strecken zu ermöglichen.
Nach dem erfolgreichen Raub brachte Doge Enrico Dandolo, der zivile Herrscher Venedigs, die Pferde in die Lagunenstadt. Dort fanden sie ab 1254 einen neuen Platz auf der Terrasse der Fassade des Markusdoms, wo sie für Jahrhunderte den Markusplatz dominierten.
Doch das Schicksal der Pferde war noch nicht besiegelt. Im Jahr 1797, nach der Eroberung Venedigs durch Napoleon, wurden die Skulpturen erneut gewaltsam entfernt. Der französische Kaiser sah in den antiken Meisterwerken ein Symbol für seine eigene Macht und ließ sie nach Paris bringen. Dort wurden die Pferde zusammen mit einer Quadriga für die Gestaltung des Arc de Triomphe du Carrousel verwendet – einem Triumphbogen, der Napoleons militärischen Siegen gewidmet war.
Erst nach Napoleons Sturz und der Niederlage in der Schlacht von Waterloo im Jahr 1815 sollten die Pferde ihren Weg zurück nach Venedig finden. Der britische Kapitän Dumaresq, der im Auftrag des Kaisers von Österreich handelte, war dafür verantwortlich, die Statuen aus Paris zu entfernen und nach Venedig zurückzubringen. Für seine Verdienste bei der Rückführung erhielt er eine goldene Schnupftabakdose, die mit den Initialen des Kaisers in Diamanten verziert war – ein symbolisches Geschenk, das die Bedeutung der Rückkehr dieser antiken Schätze unterstrich.
Die Pferdeskulpturen blieben bis in die frühen 1980er Jahre auf der Terrasse des Markusdoms stehen und zogen Millionen von Besuchern in ihren Bann. Doch der zunehmende Verfall durch Luftverschmutzung zwang die Verantwortlichen, die originalen Statuen zu schützen. Sie wurden entfernt und in das Innere der Basilika San Marco gebracht, wo sie bis heute zu sehen sind. Ihre Plätze im Freien wurden durch exakte Kopien ersetzt, um das Erbe der beeindruckenden Kunstwerke für kommende Generationen zu bewahren.
Die Geschichte der Pferde von Lysippos steht exemplarisch für das Schicksal vieler antiker Kunstwerke, die im Laufe der Geschichte Opfer von Kriegen, Plünderungen und Machtkämpfen wurden. Ihre Reise von Chios über Konstantinopel nach Venedig zeigt, wie eng Kunst, Politik und Macht miteinander verflochten sind. Heute dienen sie als stille Zeugen vergangener Zeiten und als Erinnerung daran, dass Kunst nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches und historisches Erbe ist, das es zu bewahren gilt. (sk)