Ein Haus erzählt Geschichte – und schweigt doch in seinem Verfall.
Von HB-Redakteur Jorgos Kontos
Kunst & Kultur – Thessaloniki, Vasilissis-Olgas-Allee 237. Inmitten des urbanen Pulsschlags einer rastlosen Stadt steht ein Haus, das einst für Glanz und Geist stand, heute aber kaum mehr als ein flüchtiger Schatten vergangener Größe ist: die Villa Lichovnik. Versteckt hinter orangefarbenen Absperrungen, umhüllt von wucherndem Gestrüpp und verrosteten Ornamenten, kämpft dieses architektonische Kleinod ums Überleben – oder wenigstens um ein würdiges Ende.
Das Lichovnik-Haus wurde zwischen 1901 und 1902 vom österreichischen Staatsbürger Jan Lichovnik errichtet – einem Mann, der zusammen mit seiner Familie Teil jener internationalen Bourgeoisie war, die Thessaloniki zur Wende des 20. Jahrhunderts zu einer wahrhaft kosmopolitischen Stadt machten. Bereits 1906 war das Haus im Besitz seiner Ehefrau Marie und ihrer Söhne Jean und Antoine. Später fiel es an Mathilde Lichovnik, die Großmutter des letzten Mieters, Rafael Mariani.
Doch wer war der Architekt, der diesem Bau sein unverkennbares Gesicht gab? Niemand Geringerer als Xenophon Paionidis – einer der prägendsten Gestalter Thessalonikis vor dem Großen Brand. In einer Ära, in der die Stadt zum Knotenpunkt von Religionen, Sprachen und Kulturen wurde, schuf Paionidis Bauten, die Stil, Funktionalität und Symbolik vereinten. Er war der griechische Gegenpol zum Italiener Poselli – und das Lichovnik-Haus eines seiner poetischsten Werke.
Das Gebäude ist ein Meisterwerk eklektischer Baukunst. Mit seinem quadratischen Grundriss, den vier Fassaden und dem symmetrisch gegliederten Haupteingang zur Vasilissis-Olgas-Allee hin wirkt es wie ein stilles Versprechen von Ordnung in einer chaotischen Welt. Florale Eisengeländer, Kapitell-Säulen, eine elegante Veranda, die sich in einen Balkon mit Giebelkrönung verwandelt – das Haus zelebriert die Schönheit des Details.
Die „Rückseite“ zur Delphi-Seite hin wirkt intimer, beinahe kontemplativ, mit kleineren Öffnungen, gegliedert in vier Abschnitte. Ein Haus mit zwei Gesichtern – repräsentativ und familiär, offen und zurückgezogen. So wie auch Thessaloniki damals war.
1987 wurde das Haus mitsamt einem kleinen Café im Erdgeschoss – über Jahrzehnte ein Nachbarschaftstreffpunkt – unter Denkmalschutz gestellt. Doch der Schutz blieb symbolisch. 2018 wurde das Café abgerissen, seitdem versinkt das Hauptgebäude in einem Dornröschenschlaf ohne Prinz. Die Fenster sind zerbrochen, das Dach eingestürzt, der Putz fällt in Fetzen, und niemand der Erben scheint sich für das Schicksal des Hauses zu interessieren.
Das Lichovnik-Haus ist heute ein Mahnmal der städtischen Nachlässigkeit, aber auch ein stiller Wächter über eine Epoche, in der Architektur nicht nur Funktion, sondern Ausdruck von Identität war.
Und morgen?
Noch ist es nicht zu spät. Noch könnte ein Zusammenspiel von Stadt, Denkmalschutz und privaten Investoren dieses Gebäude retten – nicht als sterile Rekonstruktion, sondern als lebendige Erinnerung. Vielleicht als Kulturzentrum, vielleicht als Museum der städtischen Architekturgeschichte. Vielleicht aber auch einfach als das, was es immer war: ein Haus mit Seele.
Denn wer Häuser vergisst, vergisst sich selbst. (jk)
