Ein Mann, eine griechische Insel und ein Schweigen: Werner Herzogs „Letzte Worte“

Im Jahr 1968 erschuf der visionäre deutsche Regisseur Werner Herzog mit „Letzte Worte“ einen außergewöhnlichen Kurzfilm, der sowohl in seiner Erzählweise als auch in seiner Ästhetik neue Maßstäbe setzte. Gedreht in stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Bildern auf der griechischen Insel Spinalonga und dem benachbarten Kreta, erzählt der Film die berührende Geschichte des letzten Bewohners der einstigen Leprakolonie Spinalonga, der sich trotz aller Widrigkeiten weigert, sein Schweigen zu brechen.
Von HB-Redakteurin Saskia Köhler

Kunst & Kultur – Spinalonga, eine kleine, karge Insel vor der Küste Kretas, war zwischen 1903 und 1957 eine Leprakolonie, die von der griechischen Regierung eingerichtet wurde, um die von der Gesellschaft verstoßenen Leprakranken zu isolieren. Nach der Schließung der Kolonie blieb die Insel jahrzehntelang unbewohnt – mit einer Ausnahme: Ein einzelner Mann verweigerte beharrlich den Abschied von der Insel, die für ihn zur Heimat geworden war. Diese reale Begebenheit inspirierte Werner Herzog zu seinem Kurzfilm „Letzte Worte“.

In „Letzte Worte“ wird die Geschichte dieses letzten Bewohners erzählt, der gegen seinen Willen von der verlassenen Insel nach Kreta umgesiedelt wird. Doch obwohl er nun physisch von Spinalonga getrennt ist, bleibt seine Seele dort verankert. Der Mann weigert sich zu sprechen, und dieser stumme Protest wird zu seinem letzten Akt der Selbstbehauptung. „Ich rede nicht, das ist mein letztes Wort“, wiederholt er immer wieder, während er nächtelang in den Kafenia Kretas die Kretische Lyra spielt.

Herzog lässt in diesem Film die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Die Erzählweise von „Letzte Worte“ erinnert an eine dokumentarische Darstellung, doch die wiederholten Dialoge und die eigenwillige Inszenierung der Szenen verleihen dem Film eine surreale Atmosphäre. Die Bewohner Kretas, die in den Film eingebunden sind, erzählen ihre Geschichten in einer Schleife, die die Grenzen zwischen Wahrheit und Mythos verwischt. Das Unausgesprochene wird in „Letzte Worte“ zum zentralen Thema – ein starkes Symbol für den Widerstand des Individuums gegen das Vergessen und die Auslöschung der eigenen Identität.

Bemerkenswert ist die Entstehungsgeschichte des Films: Herzog drehte „Letzte Worte“ innerhalb von nur zwei Tagen während der Dreharbeiten zu seinem ersten Spielfilm „Lebenszeichen“. Die nächtliche Atmosphäre und die karge Landschaft Kretas, die im Film so eindrucksvoll zur Geltung kommen, wurden in kürzester Zeit eingefangen. Der gesamte Film wurde anschließend an nur einem Tag geschnitten, was die Effizienz und das außergewöhnliche Talent Herzogs unterstreicht.

„Letzte Worte“ feierte seine Premiere bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen 1968, wo der Film nicht nur das Publikum, sondern auch die Jury beeindruckte. Er wurde mit dem Hauptpreis in der Kategorie Kurzspielfilm ausgezeichnet und markierte damit einen frühen Höhepunkt in Herzogs Karriere. (sk)

Foto: Herbert Aust/Pixabay