In der sanften Ebene südlich von Salerno, eingebettet zwischen Mittelmeerküste und dem Cilento-Gebirge, liegt eine der eindrucksvollsten archäologischen Stätten Italiens – Paestum.
Von HB-Redakteurin Sabrina Köhler
Reisen – Was heute wie ein vergessenes Kapitel der Geschichte anmutet, erzählt in Wahrheit von einer tiefen Verbindung zwischen Griechenland und Italien. Die monumentalen Tempel, die stillen Ruinen und die leuchtenden Fresken sind das steinerne Erbe einer griechischen Kolonie, die vor über 2.500 Jahren hier wurzeln schlug.
Als um 600 v. Chr. griechische Siedler aus Sybaris oder Troizen an diesen fruchtbaren Küstenstreifen kamen, gründeten sie eine Stadt, die sie Poseidonia nannten – zu Ehren des Meeresgottes Poseidon. Doch nicht der Handel über See stand im Mittelpunkt ihrer Gründung, sondern die Erschließung des fruchtbaren Landes. Die Stadt entstand zwei Kilometer landeinwärts, geschützt durch eine Lagune, die einst als natürlicher Hafen diente. Es war eine bewusste Entscheidung für Ackerbau, für sesshafte Kultur und stabile Entwicklung – ein Konzept, das sich lohnte.

Der Aufstieg Poseidonias verlief rasant. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. zeugten monumentale Bauten von Reichtum und künstlerischem Ehrgeiz. Noch heute beeindrucken die dorischen Tempel durch ihre Wucht, Präzision und Eleganz – eine seltene, nahezu mystische Begegnung mit der archaischen und klassischen Kunst Griechenlands.
Die Tempel von Paestum gehören zu den am besten erhaltenen der griechischen Welt. Der sogenannte Hera-Tempel, auch Basilika genannt, stammt aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. und ist ein Paradebeispiel archaischer Baukunst. Ihm gegenüber erhebt sich der sogenannte Poseidontempel – tatsächlich wohl ebenfalls Hera geweiht – mit vollendeter klassischer Proportion und machtvoller Präsenz. Der kleinere Athenatempel bringt dagegen eine spielerische Note ins Ensemble: dorisch im Grundgerüst, doch mit ionischen Einflüssen, die vom kulturellen Austausch jener Zeit zeugen.
Etwa 400 v. Chr. übernahmen die Lukaner, ein italisches Volk, die Kontrolle über die Stadt und benannten sie in Paistos um. Die griechische Prägung blieb bestehen, verschmolz aber zusehends mit einheimischen Traditionen – ein früher Vorbote kultureller Integration. Mit der römischen Eroberung 273 v. Chr. wurde Paestum in eine latinische Kolonie verwandelt. Obwohl sich die politischen Verhältnisse änderten, durfte die Stadt als einzige griechische Kolonie in Süditalien weiterhin ihre Bronzemünzen prägen – ein leiser Nachklang der einstigen Hellenisierung.
Nach dem Verfall in der Spätantike verschwand Paestum beinahe vollständig von der Landkarte. Malaria, Versumpfung und Angriffswellen führten zur vollständigen Aufgabe des Ortes. Erst im 18. Jahrhundert, parallel zur Wiederentdeckung Pompejis, erlangte Paestum erneut Aufmerksamkeit. Für Bildungsreisende auf der Grand Tour wurde es bald zum Höhepunkt klassischer Sehnsucht. Auch Johann Wolfgang von Goethe besuchte Paestum 1787 auf seiner Italienreise. Überwältigt von den Tempeln, sprach er von einer „völlig fremden Welt“ und pries deren kraftvolle Schönheit jenseits modischer Ästhetik.
Das Archäologische Nationalmuseum von Paestum gewährt tiefere Einblicke in das Leben, den Glauben und die Kunst der griechischen Siedler. Besonders das berühmte „Grab des Tauchers“ – mit seinem einzigartigen Fresko eines in die Tiefe springenden Mannes – wird oft als Sinnbild für den Übergang vom Leben in das Jenseits gedeutet. Eine symbolische Darstellung, ganz im Sinne griechischer Philosophie: Das Leben als ein Fluss, dessen Quelle und Mündung untrennbar verbunden sind.
Was Paestum von anderen antiken Stätten unterscheidet, ist nicht nur der Grad der Erhaltung. Es ist die spürbare Nähe zur griechischen Seele: der dorische Rhythmus der Säulen, die Mythologie im Stein, die philosophische Tiefe des stillen Grabes des Tauchers. Paestum ist kein bloßes Reiseziel – es ist eine Brücke über das Mittelmeer, ein Erinnerungsort an die kulturelle Weite der griechischen Antike, die nicht an der Ägäis endete, sondern auch am Tyrrhenischen Meer ihre Spuren hinterließ.
Reisetipp: Wer heute Paestum besucht, sollte sich Zeit nehmen – nicht nur für die Tempel, sondern auch für das Museum, für einen Spaziergang entlang der alten Stadtmauer, für die duftenden Wiesen und vielleicht für die Vision einer Rose. Die berühmten „Rosen von Paestum“, einst von Vergil gepriesen, mögen heute verschwunden sein – aber in der blühenden Phantasie des Reisenden entfalten sie immer noch ihren ewigen Duft. (sk)
