Sardinien, die wilde Schönheit des Mittelmeers, fasziniert nicht nur durch ihre Naturlandschaften, sondern birgt auch steinerne Zeugen einer bewegten Vergangenheit: die alten Wehrtürme, die sich wie stumme Beobachter entlang der Küste verteilen.
Von HB-Redakteur Dietmar Thelen
Weltweit/Sardinien – Diese Bauwerke, von denen einst mehr als 100 die sardische Küstenlinie sicherten, sind heute faszinierende Relikte eines Verteidigungssystems, das über Jahrhunderte hinweg das Leben auf der Insel prägte.
Schon bei der Annäherung vom Meer aus offenbart sich ihr Zweck: Wuchtig, fest verankert und mit weitem Blick auf das offene Wasser dienten sie nicht dem repräsentativen Bau, sondern der Frühwarnung und Kontrolle. Ihre Entstehung fällt größtenteils in das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, insbesondere in die Zeit zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, als Sardinien unter wechselnder Herrschaft stand – zunächst aragonesisch, später spanisch. Damals war die Insel ein strategisch wichtiger Außenposten, der nicht nur als Handelsstation, sondern auch als Verteidigungsbollwerk diente.

Ein ständiges Problem für die Bevölkerung waren die Überfälle durch Piraten, insbesondere von der nordafrikanischen Küste. Diese corsari barbareschi plünderten Siedlungen, verschleppten Menschen und hinterließen Angst und Unsicherheit. Um diesen Überfällen entgegenzuwirken, ließ die spanische Krone ein ausgeklügeltes Netz von Wachtürmen errichten, das sowohl zur Überwachung als auch zur schnellen Weitergabe von Alarmmeldungen diente. Die Türme wurden so platziert, dass sie stets Sichtkontakt zum nächsten Turm hatten. Bei Gefahr entzündeten die Wachposten Signalfeuer, deren Rauch weithin sichtbar war und eine Kettenreaktion entlang der Küste auslöste – ein mittelalterliches Kommunikationssystem, das in seiner Effizienz beeindruckt.
Die bauliche Ausführung der Türme war ebenso funktional wie robust. Viele der Türme sind rund gebaut – eine Form, die besser gegen Kanonenschüsse bestand hatte. Andere weisen polygonale oder rechteckige Grundrisse auf. Die Mauern sind oft über einen Meter dick, gebaut aus lokalem Naturstein. Fenster sucht man meist vergeblich, dafür gibt es Schießscharten, enge Treppen und kleine Plattformen, auf denen Kanonen oder Wurfmaschinen postiert werden konnten. Einige Türme waren durch Zugbrücken oder nur über Leitern erreichbar, was sie auch bei einem Angriff schwer einnehmbar machte.
Doch trotz ihrer militärischen Bestimmung waren diese Türme mehr als bloße Verteidigungsposten. Manche dienten auch als Leuchtturm oder Signalstation, andere übernahmen administrative Aufgaben in entlegenen Küstenregionen. Ihre Besatzungen lebten oft monatelang abgeschieden, manchmal unter extremen Bedingungen. Sie waren nicht nur Soldaten, sondern auch Fischer, Handwerker und Verwalter – das Leben in einem Turm erforderte Anpassungsfähigkeit und Durchhaltevermögen.

Im Laufe der Jahrhunderte veränderten sich die Bedrohungen, und mit der abnehmenden Gefahr von Piratenangriffen verlor das System der Wehrtürme an Bedeutung. Viele verfielen, andere wurden zweckentfremdet oder dem Verfall überlassen. Erst in jüngerer Zeit begann man, diesen stillen Monumenten wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Restaurierungsprojekte brachten einige der Türme in ihren ursprünglichen Zustand zurück, manche wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Heute erzählen sie dem aufmerksamen Besucher nicht nur von kriegerischen Zeiten, sondern auch von der engen Verbindung zwischen den Menschen Sardiniens und ihrer Insellage – von einem Leben im ständigen Blickkontakt mit dem Meer, immer wachsam, immer verbunden.
Beim Wandern entlang der Küstenpfade oder beim Blick von einer Steilküste aus wirkt es fast, als würden diese alten Türme weiterhin ihre stille Wache halten. Ihre Präsenz verleiht der sardischen Landschaft nicht nur eine besondere Dramatik, sondern lädt auch zur Reflexion ein: über Geschichte, über die Bedeutung von Schutz und Freiheit – und über die Geschichten, die in den Steinen ruhen. (dt)

